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Titel
Foucault im Hörsaal. Über das mündliche Philosophieren


Autor(en)
Schneider, Ulrich Johannes
Erschienen
Anzahl Seiten
237 S.
Preis
€ 29,00
Rezensiert für H-Soz-Kult von
Philipp Sarasin, Forschungsstelle für Sozial- und Wirtschaftsgeschichte, Universität Zürich

Michel Foucault scheint unerschöpflich zu sein. Der wohl meistzitierte Intellektuelle der Gegenwart, dessen neuestes Buch dieses Frühjahr bei Seuil/Gallimard erscheinen wird („Le discours philosophique“, ein Manuskript von 1966), hatte schon 1984, im Jahr seines Todes, das Lesepublikum mit zwei Büchern zur Antike überrascht, die so gar nicht zu seinem vorherigen „Werk“ – er lehnte den Begriff ab – zu passen schienen. Die sich ab 1997 über zwei Jahrzehnte hinziehende Publikation seiner dreizehn Vorlesungsreihen am Collège de France erzwang dann erneut diverse erweiterte, zuweilen auch ganz neue Lesarten und Interpretationen seines Denkens. 1994 erschienen mit den vierbändigen „Dits et Écrits“ die Vorträge, Reden, Seminare, Aufsätze, Gespräche und Interviews – und 2018 folgte schließlich noch ein zu Lebzeiten nicht publiziertes, aber schon zum Verlag getragenes Buch („Les Aveux de la Chair“).

Angesichts dieser verwirrenden und jede „Gesamtdeutung“ schier verunmöglichenden Vielfalt von Foucaults Denken, das oft die Richtung änderte und manchmal auch ganz gegensätzliche Linien parallel verfolgte, ist es eine verlockende Idee, dieses Philosophieren anhand der Reihe der dreizehn Vorlesungen von 1970 bis 1984 (mit der Ausnahme des Freisemesters 1976/77) zu rekonstruieren. Ulrich Johannes Schneider stützt sich bei dieser Fokussierung auf das ausführlich begründete Argument, dass das Sprechen und das sich dabei entwickelnde Denken Foucaults im Hörsaal einer eigenen Logik und Dynamik gefolgt sei. Er geht zurecht nicht soweit, zu behaupten, hier sei der „eigentliche“ Foucault zu vernehmen. Doch angesichts der erkennbaren und von Foucault zuweilen auch offen bekannten Anstrengung, während dreizehn Vorlesungszyklen den Zuhörer:innen Woche für Woche etwas Neues und überaus Substantielles bieten zu wollen, ist allein schon die Rekonstruktion genau dieser Anstrengung, die zumindest während der Semesterzeiten im Mittelpunkt von Foucaults täglicher Arbeit stand, in ihrem ganz speziellen medialen Setting überaus lohnend.

Zuerst macht allein schon die Chronologie der Vorlesungen und der Buchveröffentlichungen deutlich, dass die vier von 1975 bis 1984 publizierten Hauptwerke aufs Engste mit dem Vorlesungsstoff der jeweils vorhergegangenen Jahre verbunden sind. Schneider zeigt allerdings an verschiedenen Beispielen, dass die Vorlesungen oft Themen ausführlicher oder auch in anderer Weise behandelten als die Bücher; zudem kamen in den Vorlesungen Themen zur Sprache – so vor allem die „Gouvernementalität“ mit der ausführlichen Erörterung des christlichen Pastorats, des Liberalismus und des Neoliberalismus (1978–1980) –, zu welchen Foucault kein Buch verfasste. Deutlich wird in den Vorlesungen aber auch und vor allem das Tastende, ja Experimentelle dieses philosophischen Nachdenkens im Moment der Rede im Hörsaal, das Explorieren neuer Themen und Konzepte, die dann später in Bücher einflossen – oder auch nicht. Foucault bekannte in den Vorlesungen gegenüber den Zuhörer:innen, die, durch das offene Format des Collège de France ermöglicht, von akademisch Forschenden über Studierende bis zu politischen Aktivist:innen reichten, zuweilen offen seine konzeptionellen Unsicherheiten und Richtungsänderungen, so berühmterweise etwa an der Stelle in „Geburt der Biopolitik“ (1981/82), als er sagte, er hätte eigentlich gern weiter über Biopolitik gesprochen (wie schon in der Vorlesung und der Buchveröffentlichung 1976), aber das sei ihm nun nicht mehr möglich. Warum nicht? „Foucault lässt sich“, so Schneider zu dieser Stelle, „vom Material, das er seinen Ausführungen zugrunde legt, auf Umwege führen; er zeigt im Nachdenken Veränderungsbereitschaft.“ (S. 64) Schneider hätte allerdings durchaus noch anfügen können: Das „Material“, das Foucault unwiderruflich vom Biopolitik-Konzept wegführte, war die insgesamt überraschend positive Auseinandersetzung mit dem Liberalismus und dem Neoliberalismus. Honi soit qui mal y pense.

Was also passierte im Hörsaal, wenn Foucault sprach? Schneider zeigt, dass Foucault seine Vorlesung tatsächlich Woche für Woche neu vorbereitete, und zwar in einem handschriftlichen, skizzenhaften Entwurf, den er dann im Hörsaal in eine ausführlichere Rede mit ganzen Sätzen transformierte, seine Notizen also laufend in der mündlichen Rede interpretierte – „wie Partituren einer Darbietung, die der Komponist selbst umsetzt“ (S. 62). Das dichte, ja zuweilen „unvermutet[e] Quellenmaterial“ (S. 66) jedoch schöpfte Foucault nicht wöchentlich aus dem Archiv. Vielmehr habe er in langen Jahren der Archivrecherchen unzählige Dossiers angehäuft, die ihm zuhause am Schreibtisch als Ressourcen zur Verfügung standen; die daraus gezogenen Quellen las er dann im Hörsaal vor, um über diese Texte in oft großer Ausführlichkeit zu sprechen. Es waren laut Schneider also drei Schreibtische, die auf diese Weise, gewissermaßen miteinander „verschaltet“, das mündliche Philosophieren im Hörsaal erst ermöglichten: der Tisch im Archiv, der Schreibtisch zuhause, das Lesepult im Hörsaal. Dort allerdings blieb, zu Foucaults ausdrücklichem Bedauern, sein mündliches Philosophieren bis auf seltene Rückfragen ganz monologisch, unterbrochen nur vom gelegentlichen Klappern beim Wechsel der Tonband-Kassetten des Publikums. Foucault nahm gern darauf Rücksicht, weil er wusste und es auch schätzte, dass seine Rede auf diese Weise weiter „zirkulieren“ würde. Ob es auch in seinem Sinne war, dass dank dieser Kassetten aus den Vorlesungen dann dreizehn dicke Bücher wurden, ist hingegen eher zweifelhaft.

Schneiders Untersuchung gliedert sich, neben Prolog und Epilog, übersichtlich in vier Abschnitte mit jeweils drei Kapiteln, in denen die „Entwicklung der Gedanken im Reden“ (S. 134) und mithin der „Einsatz der Vorlesungen“ (S. 31) untersucht wird. Gleichzeitig wird in groben Zügen, zuweilen aber auch fein im Detail ausgearbeitet, Foucault Philosophie in the making dargestellt. Diese unvermeidlich knappe und perspektivierte Präsentation von Foucaults Denken ist immer anregend – so besonders die ausführliche Analyse seiner langjährigen Auseinandersetzung mit dem Ödipus-Drama von Sophokles –, zuweilen allerdings auch diskussionsbedürftig. Manchmal sind es markante Auslassungen oder sagen wir: Schwerpunktsetzungen beim Referat der Vorlesungen, die Fragen aufwerfen; manchmal bleiben Veränderungen in Foucaults Denken unverständlicher, als sie es selbst beim engen Fokus auf die Vorlesungen sein müssten.

Doch das kann hier nicht vertieft werden. Wichtiger ist, dass die beiden erwähnten Stränge – die Darstellung von Foucaults Denkentwicklung und die Analyse seiner Vorlesungsarbeit – in einem, und wie Schneider anschaulich herausarbeitet, zentralen Punkt konvergieren: in Foucaults insistenter Zurückweisung von allen Verallgemeinerungen, von aller bloßen Begriffsarbeit, ja von aller (Schul-)Philosophie. Foucault präsentiert, so Schneider, kein Denksystem, keine Begriffswelt – und hießen die Begriffe auch „Macht“ oder „Wissen“ –, sondern wie gesagt historische Quellentexte, die von Welten, Menschen und Kämpfen erzählen, die nicht in philosophischen Begriffsschemata aufgehen. Wenn es erlaubt ist zu sagen, dass Schneiders Untersuchung für unvorbereitete Leser:innen zuweilen sehr scholastisch daherkommt, kann man hier auch anmerken, dass Foucault ein konsequenter Nominalist war, der, wie gewisse gelehrte Mönche im 11. Jahrhundert, jeden Realitätsgehalt von Allgemeinbegriffen radikal in Frage stellte. Es gibt für den Nominalisten immer nur das Einzelne und das Individuum – jener „Horizont des Vortrags“ Foucaults, wie Schneider schreibt (S. 100) –, gibt immer nur das Konkrete, das in den Quellen Vorfindliche. Und Schneider sagt gut begründet, dass das Ephemere dieses jeweils Singulären in der mündlichen Rede besser aufgehoben ist als in Buchform. Das Publikum im Hörsaal bekam vom Philosophen meist nur weitere Fragen und Materialien geboten, aber keine irgendwie abschließenden „Synthesen“.

Das ist natürlich der Punkt, an dem Foucault sich als Historiker von der Philosophie absetzte. Aber man täusche sich nicht, und Schneider macht auch das sehr deutlich: Foucault befragte, anders als die meisten Universitätshistoriker seiner Zeit, die Geschichte und die Quellen immer von der Gegenwart, genauer von den politischen Problemen aus, die sich ihm und seinen Zuhörer:innen ganz unmittelbar aufdrängten, etwa wenn draußen vor dem Collège de France die Polizei Stellung bezog. Schneider betont, dass Foucault deshalb seine Quellentexte immer vom hors-texte, vom Außerhalb der Diskurse her analysierte (und damit, wie man hinzufügen könnte, sich frontal gegen Derridas Diktum „il n’y a pas de hors-texte“ stellte). Das war kein bloß akademisches Gehabe: Es ist gut bekannt, dass Foucault selbst als militant auf die Straße ging, sich für algerische Arbeiter:innen, für Strafgefangene oder für den 1977 nach Frankreich geflohenen RAF-Anwalt Klaus Croissant einsetzte – und dabei der Polizei entgegentrat, ohne Blessuren zu fürchten.

Paradoxerweise allerdings verliert sich in Schneiders Analyse von Foucaults berühmter „dritter Verschiebung“ hin zum Selbst diese Kontextbezogenheit vollständig. Plötzlich scheint es so, als spräche Foucault von den antiken Selbsttechniken allein aus der Logik seiner Denkentwicklung heraus. Dabei ist der entsprechende historische Kontext der späten 1970er- und frühen 1980er-Jahre mit Händen zu greifen: Foucault setzte sich in seinem Freisemester 1976/77 intensiv mit dem Buddhismus auseinander und reiste im April 1978 in ein japanisches Zen-Kloster. In der Vorlesung „Die Hermeneutik des Subjekts“ (1981/82), aber auch in diversen Gesprächen jener Zeit (vgl. die „Dits et Écrits“) stellte er den Bezug zwischen japanischen Selbsttechniken und denen der europäischen Antike explizit her, die beide – und das ist der entscheidende Punkt – dem christlichen Zwang zur Wahrheit bzw. der Unterwerfung unter ein „Gesetz“ fundamental widersprächen. Im Herbst 1978 entdeckte Foucault in Teheran und anderen iranischen Städten die „schiitische Spiritualität“ als „revolutionäre Kraft“ (während viele ehemals revolutionäre Linke wie etwa Jerry Rubin in den USA oder Joschka Fischer in Westdeutschland neuerdings die Revolution des Selbst forderten). Und schließlich hielt Foucault sich seit den späten 1970er-Jahren mehrfach monatelang in Kalifornien auf, wo ihm die von der New-Age-Esoterik und der Sehnsucht nach östlicher Weisheit angetriebene Kultur des Selbst (das „Human Potential Movement“, das spirituelle Zentrum Esalen mit all den Selbsttechnik-Seminaren etc.) unmöglich hatte entgehen können. LSD kam dazu. Zweifellos, man müsste diese Bezüge noch viel genauer untersuchen. Blendet man sie jedoch aus, erscheint dieser historisch arbeitende Seismograph seiner Zeit doch allzu sehr wieder als bloß ein weiterer Philosoph im Hörsaal.

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